Habe ich nun Vorfahrt, Vorrang, Vortritt oder soll ich doch lieber warten?
Zum Tag der deutschen Sprache öffnen wir die Büchse der Pandora und tauchen in die Welt der Rechtsterminologie ein. Missverständnisse können auch dort entstehen, wo ein und dieselbe Sprache mehrere Rechtsordnungen abdeckt.
Werden Punkte vom Führerschein abgezogen? Darüber würden sich deutsche Fahrende sicher freuen! Was für sie ein Grund zur Freude ist, ist für Südtiroler deutsche Fahrende ein Grund zur Verzweiflung: Wer ein Vergehen im Straßenverkehr begeht, bekommt in Deutschland Punkte erteilt, in Italien werden dafür hingegen Punkte abgezogen. Punkteabzug, die Südtiroler deutsche Entsprechung für den italienischen Begriff decurtazione del punteggio, ist in Italien also eine Verwaltungsstrafe.
Warum weist Punkteabzug unterschiedliche Bedeutungen auf, obwohl die Sprache immer Deutsch ist? Dies lässt sich durch Folgendes erklären: Jede Rechtsordnung hat eigene Begriffs- und Wissensstrukturen. Sie schafft daher eine eigene Rechtswirklichkeit, die durch viele Faktoren (z. B. historische Entwicklung, Kultur, Gesellschaft) beeinflusst wird.
Die daraus resultierende Rechtsterminologie drückt Begriffe aus, die sich auf eine bestimmte Rechtsordnung beziehen. Fehlt also beispielsweise in einer Rechtsordnung das Fachwort, das einen Straftatbestand beschreibt, so stellt ein bestimmtes Verhalten in dieser Rechtsordnung - üblicherweise - keine Straftat dar und ist daher nicht strafbar.
Um Klarheit zu schaffen, nehmen wir folgendes Beispiel: Stalking bezeichnet das willentliche und wiederholte (beharrliche) Verfolgen oder Belästigen einer Person, deren physische oder psychische Unversehrtheit dadurch unmittelbar, mittelbar oder langfristig bedroht und geschädigt werden kann. Dieses Verhalten wird in vielen Ländern verfolgt, von anderen jedoch noch nicht als Straftat anerkannt, z. B. in Rumänien. Das Fehlen einer rechtlichen Anerkennung bedeutet das Fehlen eines Rechtsbegriffs und der entsprechenden rechtlichen Definition. Im deutschsprachigen Raum wird der oben genannte Rechtsbegriff je nach Rechtsordnung unterschiedlich bezeichnet: Nachstellung in Deutschland, beharrliche Verfolgung in Österreich und Verfolgungshandlungen in Italien (Südtirol). In der Schweiz, hingegen, „gibt es bislang keinen Straftatbestand, der Stalking als solches für illegal erklärt. Aber auch wenn Stalking «als Ganzes» nicht angezeigt werden kann, bedeutet dies nicht, dass eine strafrechtliche Reaktion nicht möglich ist, denn oft sind die einzelnen Handlungen durchaus strafbar“.
Ein und dieselbe Sprache zu teilen, heißt also nicht automatisch, dieselbe Rechtskultur und -sprache gänzlich zu teilen. Dieses Beispiel zeigt uns, dass es innerhalb des Deutschen unterschiedliche Rechtssprachen gibt: eine für jede Rechtsordnung, die diese Sprache als Rechtssprache verwendet. Demzufolge können wir jeweils von einer deutschen Rechtssprache Deutschlands, Österreichs, Südtirols oder der Schweiz sprechen, um nur einige Beispiele zu nennen.
Davon ausgehend können sich verschiedene Szenarien herauskristallisieren. Es kann vorkommen, dass derselbe Rechtsbegriff unterschiedlich genannt wird. Nehmen wir den Titel dieses Beitrags: Vortritt (CH), Vorrang (AT) und Vorfahrt (DE, Südtirol) bezeichnen den gleichen Sachverhalt im Straßenverkehrsrecht, d. h. die Berechtigung an Kreuzungen und Einmündungen als Erste:r zu fahren.
Weiters können gleichlautende Fachwörter auftreten, die dennoch für unterschiedliche Rechtsbegriffe stehen, wie wir es am Beispiel des Punkteabzugs bereits gesehen haben. Es kann aber auch sein, dass eine Rechtsordnung Rechtstermini verwendet, die von den anderen deutschsprachigen Rechtsordnungen als veraltet oder ungewöhnlich angesehen werden. Wird beispielsweise Verwahrlosung in Südtirol als geläufiger Bestandteil des Ausdrucks Zustand der Verwahrlosung in Bezug auf Minderjährige im Rahmen des Familienrechts benutzt, wird dieses Fachwort in den benachbarten deutschsprachigen Ländern als veraltet empfunden.
Manchmal können wir auch auf Rechtsbegriffe stoßen, die in den anderen deutschsprachigen Rechtsordnungen anders reglementiert sind (z. B. Lockdown) oder sogar keine (direkte) Entsprechung haben. Gibt es in der Schweiz z. B. Kantone, finden wir in Italien hingegen Regionen: Verwaltungs- und verfassungsrechtlich ist Italien in Regionen gegliedert, während die Schweiz in Kantonen unterteilt ist.
Dieser kurze Überblick, der bei weitem nicht erschöpfend ist, gibt eine Vorstellung davon, wie komplex die Rechtsterminologie ist, selbst wenn es sich um Rechtsordnungen handelt, die dieselbe Sprache verwenden. Daher ist Vorsicht geboten: Bitte nie die Rechtsordnung aus den Augen verlieren!
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