Achtung, Grenze!
Die Brennergrenze bleibt vorerst zu, die Zusammenarbeit in der Europaregion Tirol wird ausgebremst. Grenzregionen zählen zu den Verlierern der Pandemie. Müssten sie aber nicht.
Eigentlich wollten sich die drei Landeshauptleute von Tirol, Südtirol und dem Trentino vergangene Woche in Innsbruck treffen. Das Treffen fand allerdings nicht wie geplant statt, man traf sich per Videokonferenz und nicht persönlich. Während der Trentiner Landeshauptmann Maurizio Fugatti behauptete, den Euregio-Gipfel aufgrund des Streits um die geschlossene Brennergrenze zu boykottieren, versuchte Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher die Wogen zu glätten. Über eine gemeinsame Videobotschaft signalisierten Fugatti, Kompatscher und Günther Platter Zusammenhalt, auch in der Krise.
Auch Südtiroler und Tiroler Oppositionsparteien schauen kritisch auf die geschlossene Brennergrenze, am vergangenen Freitag forderten sie eine „sofortige Öffnung“.
Aber nicht nur am Brenner, in ganz Europa hat sich das Leben in den Grenzregionen schlagartig verändert. Diesseits der Grenze Familie, jenseits die Arbeit, dann plötzlich Stillstand. Sich innerhalb kürzester Zeit für eine Seite entscheiden zu müssen, so ging es vielen Menschen, die in europäischen Grenzräumen leben.
Corona ist nicht die erste Krise
Dabei galt die europäische Integration immer als Erfolgsgeschichte für Grenzgebiete. Die EU-Regionalpolitik und das Schengen-System schufen transnational verflochtene Regionen: Man lebte und arbeitete gemeinsam über die Grenzen hinweg. Es war Normalität, sich in einem Grenzraum frei zu bewegen, hier oder drüben einzukaufen. Und es gibt auch viel Geld: Unternehmen, Vereine oder Institutionen erhalten EU-Mittel für grenzüberschreitende Projekte. Auch auf politischer Ebene wird eng zusammengearbeitet, zum Beispiel im Rahmen von Europaregionen. Das Zusammenwachsen ist allerdings immer wieder mit Krisen konfrontiert.
Bereits 2015 wurden die europäischen Grenzregionen auf eine harte Probe gestellt, im Zuge von Migration und Flucht wurde Schengen aus- und Grenzpolizei eingesetzt. Fünf Jahre später sind die Grenzen wieder dicht: Durch die Covid-19-Pandemie befinden sich auch Grenzregionen im Lockdown. Die Bewegung innerhalb eines Grenzraums ist äußerst eingeschränkt, teilweise auch vollkommen eingestellt. Grenzgänger und Angehörige von Minderheiten, die in mehreren Kulturen beheimatet sind und ihren Alltag auf beiden Seiten einer Staatsgrenze gestalten, sind davon besonders betroffen.
Öffentliche Sicherheit und Gesundheit werden staatlich gedacht und Strategien zum Umgang mit der Pandemie staatlich geplant.
Die politisch-institutionelle Kooperation in Grenzräumen mag zwar über digitale Formate weitergehen, das ersetzt aber den alltäglichen wirtschaftlichen und sozialen Austausch der Bewohner nicht. Die Grenzöffnungen erfolgen nur langsam und unkoordiniert. Auch Diskurse über ein sicheres Diesseits und ein unsicheres Jenseits einer Grenze, oder umgekehrt, sind verstärkt wahrzunehmen. Etwa wenn Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz auf eine weiterhin geschlossene Brennergrenze beharrt. Das schafft Distanz. Das Europa ohne Grenzen, regionale und lokale Gebietskörperschaften, die grenzüberschreitend zusammenarbeiten, aber auch die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, stehen im Schatten der Pandemie.
Unter dem Motto „We stand together. Cities and regions responding to the Covid-19 emergency” sammelt und veröffentlicht der Europäische Ausschuss der Regionen Beispiele, wie Gemeinden und Regionen mit der Pandemie umgehen. Allein schon die Zahlen zeigen die besonderen Herausforderungen für Grenzräume.
Europaweit gibt es Beispiele grenzüberschreitenden Krisenmanagements
Von den insgesamt 202 aufgelisteten Beispielen beziehen sich, Stand Mitte Mai, 30 auf eine grenzüberschreitende Initiative, das sind knapp 15 Prozent. Die Beispiele verteilen sich auf verschiedene europäische Grenzräume und zielen großteils auf erleichterte Bedingungen für Grenzpendler und die Zusammenarbeit bei der Gesundheitsversorgung ab, etwa die stationäre Aufnahme von Patienten in einem anderen Land oder die gegenseitige Versorgung mit Schutzausrüstung.
Andere Beispiele sind ein euroregionaler Fonds zur Bewältigung der Covid-19 Krise des EVTZ (Europäischer Verbund für territoriale Zusammenarbeit) Eurorégion Pyrénées Méditerranée (Frankreich-Spanien) und eine gemeinsame Deklaration der Vertreter des EVTZ Rio Minho – ein Zusammenschluss von Gemeinden an der spanisch-portugiesischen Grenze – in der sie die Wiederherstellung des lokalen Grenzverkehrs und eine überstaatliche Koordinierung bei der Aufhebung von Restriktionen fordern.
Besonders interessant ist das Beispiel des als EVTZ organisierten grenzüberschreitenden Krankenhauses Cerdanya an der französisch-spanischen Grenze. Dieses hat durch Verhandlungen mit den spanischen und französischen Gesundheitsbehörden und Polizeikräften die Einrichtung einer grünen Fahrspur durchgesetzt, die es sowohl den Mitarbeitern als auch den Patienten des Krankenhauses ermöglicht, die Grenze bei Bedarf jederzeit zu überqueren.
Auch in der Europaregion Tirol-Südtirol-Trentino bemüht man sich um die Zusammenarbeit: Tirol unterstützt Südtirol bei der Versorgung von Intensivpatienten, Österreich erleichtert die Einreise von Südtiroler Studierenden, Forschungsprojekte zum Coronavirus werden gemeinsam finanziert. Diese Beispiele verdeutlichen:
Räume im gegenwärtigen Europa werden nicht mehr nur nationalstaatlich organisiert und gelebt.
Dennoch werden in Krisenzeiten die Staatsgrenzen zu vermeintlich wichtigen Sicherheitsvorrichtungen reaktiviert und es kommt zu einem Konflikt zwischen grenzüberschreitenden Lebensräumen und zentralstaatlich definierten Politik- und Sicherheitsagenden. Kann dieser Widerspruch überhaupt gelöst werden?
Eine mögliche Antwort könnte die Verteilung und Ausübung von Zuständigkeiten sein. Der politische Umgang mit künftigen Herausforderungen braucht eine bessere Balance. Die EU kann bestimmte Aufgaben erledigen: etwa die wirksame Nutzung bereits bestehender Instrumente zum Katastrophen- und Zivilschutz, ein gemeinsamer Vorrat an medizinischer Schutzausrüstung, gemeinsame Hilfen für besonders betroffene Gebiete. Und die Staaten, vor allem aber die Regionen können bestimmte Aufgaben erledigen: etwa die wirksame Identifikation von Infektionsherden oder Lockerungen bei sich verbessernden Zahlen.
Es gilt, dem Rückzug ins Nationale entgegenzuwirken
Eine weitere Antwort liegt in den Grenzräumen selbst. Die Netzwerke müssen belastbarer und widerstandsfähiger werden. Dazu braucht es zwei Dinge: Ein stärkeres europäisches Mandat für grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Europaregionen. Und innerhalb der Europaregionen selbst eine Reflexion, nach welchen Prinzipien die Zusammenarbeit organisiert ist. Zusammenarbeit bedeutet mehr als Austausch zwischen drei Landeshauptleuten.
Selbstverständlich braucht eine funktionierende Europaregion den Rückhalt auf oberster politischer Ebene, das zeigen die federführenden Projekte der Europaregion, wie der Euregio Familypass, der Euregio Forschungsförderungsfonds und der Euregio Master für Verwaltungsbeamte. Aber warum nicht mehr Raum geben für weitere gemeinsame Strukturen, die die drei Landesteile noch enger zusammenführen? Etwa ein hauptamtlicher Präsident mit einem entsprechenden Mandat? Noch stärker gemeinsam organisierte Verbände und zivilgesellschaftliche Akteure? Gemeinsame politische Arbeitsgruppen mit Vertretern aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft? Oder gemeinsam verwaltete Infrastrukturen?
Ein sozial, wirtschaftlich und politisch integrierter Grenzraum mit belastbaren Netzwerken und Steuerungsmechanismen vermag dem Rückzug ins Nationale entgegenzuwirken und konzertiertes Handeln über Staatsgrenzen hinweg einzufordern. Eine Krise kann den notwendigen Druck erzeugen, um neue Wege zu erproben und Lösungen durchzusetzen.
Es liegt an den politischen Akteuren, diese Lösungsansätze auszuarbeiten. Und Lösungen sind nötig, denn die nächste Krise kommt bestimmt.
Dieser Beitrag ist im Wochenmagazin FF erschienen.
Alice Engl ist Senior Researcher am Institut für Minderheitenrecht von Eurac Research und Generalsekretärin der Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft. „In der Corona-Krise sehen wir die Schwächen unserer Systeme wie unter einem Brennglas. Wir erkennen wunde Punkte im Wirtschaftssystem, Sozialsystem, Gesundheitssystem, Bildungssystem und im politischen System. Haben wir den Mut, diese Baustellen anzugehen.“ |
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