Der Rechtsstaat und das Virus
In den letzten Wochen können wir auch in Südtirol eine starke Exekutivlastigkeit beobachten. Die Task-Force besteht hauptsächlich aus Landeshauptmann und Gesundheitslandesrat, der Südtiroler Landtag ist kaum präsent. Besondere Zeiten fordern besondere Maßnahmen. Im Moment muss alles getan werden, damit unsere Gesundheit geschützt wird. Schnell und effizient.
Demokratie hingegen ist sehr selten schnell und effizient. In unserer Demokratie geht es um ein Abwägen von Ideen, Werten und Interessen. Das braucht Zeit und schafft Reibung. Da wirkt Demokratie fast wie ein Luxus, den wir uns in COVID-19-Zeiten nicht leisten können und nicht leisten wollen. Wir suchen und brauchen Leadership. Und unser Leadership macht meines Erachtens keinen schlechten Job.
Aber wenn wir unseren Blick außerhalb von Südtirol schweifen lassen, dann sehen wir allerdings sehr beängstigende demokratiepolitische Entwicklungen. Kacynski lässt trotz Pandemie wählen, um seine Macht zu festigen und ebnet so den Weg für ein totalitäres Polen. Dafür wurde mirnixdirnix das polnische Wahlgesetz abgeändert. In Ungarn schaltet Orban per Notstandsgesetz das Parlament aus. Und die Welt -und vor allem die EU- schaut dabei zu.
Gleichzeitig werden in der Zwischenzeit unsere Persönlichkeitsrechte schwer in Mitleidenschaft gezogen. Viele Staaten holen sich den Zugriff zu den Mobilfunkdaten ihrer Einwohnerinnen und Einwohner um den Virus besser zu tracken. Eine sehr effiziente und in diesen Zeiten vielleicht notwendige Maßnahme. Dabei wird insbesondere in Asien fast uneingeschränkter Zugriff auf die persönlichen GPS-Daten, Kamera, Kontakte und Nachrichtenverläufe gewährt. Man muss sogar sein Einverständnis geben, dass der Staat in Zukunft auf dem Mobiltelefon autonom Apps installieren und deinstallieren kann. Damit wird für die Zukunft ein Weg der totalen Überwachung geebnet. Überwachungen per Kameras, Drohnen und dementsprechende Software zur Prüfung der biometrischen Daten sind Realität bzw. stehen vor der Haustür.
Wir wissen, dass die Menschheit aus Krisensituationen meist mit einem Demokratiedefizit und einer stärkeren Überwachung durch den Staat hervorgegangen ist. Man denke dabei an 9/11 oder andere Terroranschläge. Body Scanner und Co. sind auf dem meisten Flughäfen Realität. Diese Maßnahmen sind plötzlich da und werden oft ohne großen Widerstand der Bevölkerung zum Standard.
Wir müssen uns bewusst sein, dass wir im Moment Einschränkungen hinnehmen müssen, um das Virus zu bekämpfen. Und da gilt es, unsere Politik, unsere Verwaltung und vor allem unsere Sanität zu unterstützen.
In der Zeit nach der Krise müssen wir aber ebenso vehement unsere Demokratie und unsere Privatsphäre schützen und sicherstellen, dass gewisse Maßnahmen nur eine temporäre Notlösung bleiben. Denn unsere Gesundheit ist wichtig und gehört verteidigt, aber ebenso unsere Privatsphäre und unsere Demokratie.
Deshalb sollten wir jetzt und danach möglichst offene Augen haben. Um sicherzustellen, dass nach COVID-19 nicht der nächste Alptraum vor der Tür steht.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Tageszeitung “Dolomiten”.
Marc Röggla ist Leiter des neugegründeten Center for Autonomy Experience bei Eurac Research. Der Rechtswissenschaftler und Experte für Minderheitenrecht ist zudem Generalsekretär der Europäischen Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen. |
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