25 Oktober 22

Begegnung lebt von der Unplanbarkeit

Auf Einladung von Eurac Research, BASIS Vinschgau Venosta und der Bürger*Genossenschaft Obervinschgau trafen sich internationale und lokale Fachleute und Interessierte in Bozen und im Rahmen der „Churburger Wirtschaftsgespräche 2.0“ in Schluderns.

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Die Vortragenden und Diskutierenden der Tagung "Begegnung neu denken" in Bozen: Maria Elisabeth Rieder, Ingrid Kofler, Giulia Isetti, Helen F. Wilson, Andreas Schatzer, Elisa Piras und Cristina Masera.Credit: Eurac Research

Begegnungen machen uns zu Menschen. Sie ermöglichen es uns, Beziehungen aufzubauen und Probleme durch Kooperation zu lösen, gäbe es nicht eine zentrale Krux: Begegnung zeichnet sich durch ihre Unvorhersehbarkeit aus. Organisieren lässt sie sich nicht. Wohl aber fördern, wie die vielfältigen Stellungnahmen der zweitägigen Konferenz „Begegnung neu denken“ zeigten.

Eines bereits vorweg: wer sich alleine ins Auto setzt, anstatt in Bus oder Bahn, dem fehlt die Erfahrung eines zentralen Begegnungsortes. Davon ist zumindest die Kultur- und Sozialgeographin Helen F. Wilson überzeugt. „Öffentliche Verkehrsmittel sind besonders wichtige Räume. Kaum an einem anderen Ort kommen so viele Menschen unterschiedlicher Realitäten an einem oft sehr begrenzten Raum zusammen und teilen dieselben Eindrücke, Gerüche, Geräusche und Sitzplätze“, betonte Wilson, die an der Durham University im Nordosten Englands lehrt. Bestimmte Ungleichheitsverhältnisse seien – zumindest für die Dauer der gemeinsamen Fahrt – ausgehebelt. Wenn Menschen sich daran gewöhnen, regelmäßig auch ihnen bislang fremden Personen zu begegnen und ihnen nahe zu sein, könne Toleranz entstehen. Was nicht bedeuten müsse, dass Begegnung konfliktfrei sei. Im Gegenteil beinhalte der Begriff selbst schon das Wort „gegen“. Es gehe also um ein Treffen zwischen gegenseitigen Kräften, das sich aus dem Zufall ergebe, aber gleichzeitig Grundlage für lösungsorientiertes Handeln sei. Völlig kontraproduktiv sei eine Verpanzerung der Gesellschaft, wie Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research hervorhob. „Durch die Pandemie haben wir viel Raum verloren. Was wir jetzt brauchen, sind Offenheit, Kommunikation auf Augenhöhe und Fairness, wenn es darum geht, miteinander zu gestalten.“

Eine lange als Schreckgespenst verschriene Form des Miteinanders brachte Elisa Piras, Politikwissenschaftlerin am Center for Advanced Studies von Eurac Research zur Diskussion, nämlich den Multikulturalismus. Lange wurde der Multikulturalismus in Europa für tot erklärt, während andere Nationen, etwa Kanada oder Australien die multikulturelle Identität als politisches Statement auch konstitutionell verankert haben. „Es täte der EU gut, die Perspektive zu wechseln und ein umfassenderes Wir ins Auge zu fassen, um soziale Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu garantieren. Der kanadische Multikulturalismus könnte Modell für Migrations- und Integrationspolitik sein“, unterstrich Piras. Multikulturalismus umfasse sowohl Rechte für Minderheiten, für die indigene Bevölkerung, sowie für zugewanderte Gruppen. In der EU werde der Fokus zu sehr auf letztere gelegt und negative Aspekte hervorgehoben. Flüchtende wüssten etwa oft nicht, wie sie zur Gemeinschaft beitragen könnten, weil es ihnen nicht ausreichend kommuniziert werde. Auch in Sachen Chancengleichheit sei Kanada Vorbild. Die indigene Bevölkerung hatte lange wenig Chancen, eine höhere Bildung zu erreichen. Der Staat setzte gezielte Maßnahmen, um den Zugang zu öffnen. Auch viele Unternehmen verfolgen mittlerweile eine Kultur des Multikulturalismus, der weit über reine Marketingstrategie hinausgeht.

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Credit: CGIL-AGB/Eurac Research

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Begegnung braucht Freiräume und weniger Erwartungshaltung

Mit Migration und Tourismus beschäftigt sich der Historiker Kurt Gritsch in einem Arge Alp-Projekt im Begegnungsraum Dreiländereck Graubünden, Tirol, Südtirol. „Vor allem in Grenzregionen ist der Wunsch, sich abzugrenzen utopisch. Begegnungen sind unvermeidbar, um aber Wirkung zu entfalten, brauchen sie Freiräume“, unterstrich Gritsch. Bürokratie und eine zu detaillierte Erwartungshaltung engen Begegnung ein und wirken sich negativ auf das Ergebnis aus. Begegnung mache nur Sinn, wenn sie gewünscht wird. Man müsse immer von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen, die an einem Ort leben und dürfe auch den Humor nicht zuhause lassen. Gritsch präsentierte verschiedene Stufen der Begegnung und hob vor allem die sogenannte reklamierende Stufe hervor. „Es geht nicht darum, ein Kreuzchen zu machen, damit andere für mich entscheiden. Ziel ist eine Zivilgesellschaft, die initiiert und einfordert.“ Dafür brauche es jedoch eine Demokratisierung von Institutionen und Betrieben. Michael Hofer, Geschäftsführer und Vizevorsitzender der Bürger*Genossenschaft Obervinschgau, unterstrich allerdings, dass die Politik nicht nur auf Lösungsansätze von unten herauf warten dürfe, sondern auch selbst daran arbeiten müsse, starre Strukturen zu durchbrechen.

Dass Begegnung über sprachliche, kulturelle und geographische Grenzen hinweg möglich ist, zeigte insbesondere das praktische Beispiel von Johannes Abart aus Schleis. Vier Jahre lang war der gelernte Fliesenleger auf der Walz und verständigte sich zwischen Polen, Marokko oder Portugal auch mit Händen und Füßen. Maximal drei Monate darf ein Wandergeselle an einem Ort bleiben, bevor er weiterziehen muss. Smartphone oder andere technische Hilfsmittel sind nicht erlaubt. „Die Begegnungen und Beziehungen auf der Wanderschaft verändern den eigenen Horizont und es bleibt viel Zeit, über sich selbst nachzudenken. Das Materielle verliert an Bedeutung und man erlangt auch dadurch eine ganz neue Freiheit“, schilderte Abart. Regelmäßig treffen sich die Gesellinnen und Gesellen der Schächte, um auf sogenannten sozialen Baustellen zu arbeiten und damit auch der Allgemeinheit etwas zurückzugeben.

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Credit: Eurac Research

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Ökosysteme als neue Formen der Gemeinschaft

„Um soziale Wirkungen mit einem Unternehmensmodell zu verknüpfen, brauchen wir Kollaborationen“, unterstrich Jana Ganzmann, die Co-Gründerin des Impact Hub Tirol in ihrem Vortrag. „Netzwerke bestehen meist aus Menschen und Unternehmen, die uns ähnlich sind. Wir brauchen neue Formen der Gemeinschaft, nämlich Ökosysteme, die aus unterschiedlichen Playern bestehen. Und wir brauchen Räume, in denen wir uns als Menschen begegnen und die Corporate-Brille auch ablegen können. Die Bildung solcher Gemeinschaften gehört zu den Stärken von Regionen im Gegensatz zu großen Städten.“ Man müsse die Neugierde wieder in den Vordergrund rücken, betonte der Sozialunternehmer Hannes Götsch. Auch kleine Räume, wie der Vinschgau könnten internationale Standorte sein, wenn man kooperatives Wirtschaften fördere.

Ältere Generationen in der Bringschuld

Dass aber selbst in einer kleinen Region wie Südtirol kontinuierlich an einer neuen Begegnungskultur gearbeitet werden müsse, wurde in der Diskussion zwischen Cristina Masera, der Generalsekretärin des AGB/CGIL, der Landtagsabgeordneten Maria Elisabeth Rieder, Gemeindenverbandspräsident Andreas Schatzer und Ingrid Kofler von der Freien Universität Bozen deutlich. Die meisten Probleme entstünden aufgrund mangelnder und falscher Kommunikation – auch auf politischer Ebene, bedauerte Masera und forderte mehr Zeit und Raum dafür ein. Dass es mehr Begegnung zwischen den Generationen brauche und die älteren Generationen in einer besonderen Bringschuld seien, sagte Maria Elisabeth Rieder. „Wir müssen auf die Jugend zugehen und auch etwas aushalten können. Die Jugend darf angreifen, sie darf provozieren.“ Schatzer hob die Partizipation als Schlüsselelement der Gemeindepolitik hervor. Hier habe man im Vergleich zu früher tatsächlich eine 180 Grad-Wende hingelegt, doch noch immer werde bestimmten Gruppen zu wenig Respekt entgegengebracht und Gehör geschenkt. Einen Blick über die Gemeindepolitik hinaus präsentierte Klaus-Heiner Röhl vom Institut der deutschen Wirtschaft. Er sprach über die Regionalpolitik in der EU und die Bemühungen für ein bürgernahes Europa. Bis 2009 hätten Divergenzen zwischen den Regionen abgenommen, nun gebe es aber vor allem in ländlichen Räumen starke demographische Probleme.

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Credit: Eurac Research

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Funktionierende überregionale Zusammenarbeit präsentierte Luca Marrollo, Geschäftsführer des Euregio Connect am Beispiel des Radrennens „Tour of the Alps“, welches in Zusammenarbeit der drei Landestourismusorganisationen Tirol, Südtirol und Trentino organisiert wurde und aus dem mittlerweile eine Vielzahl an weiteren gemeinsamen Projekten entstanden sind.

Der erste Teil der Tagung „Begegnung neu denken“ fand am Freitag, 21. Oktober in Bozen statt, während sich der Fokus am Samstag, 22. Oktober nicht nur physisch ins Vinschgau verlagerte. Die Churburger Wirtschaftsgespräche 2.0 im Vintschger Museum VUSEUM in Schluderns thematisierten nach Wachstum, Demokratie und Ungleichheit erstmals den Begegnungsraum Dreiländereck. Hierfür arbeitete das Center for Advanced Studies mit dem Gründer- und Innovationszentrum BASIS Vinschgau Venosta und der Bürger*Genossenschaft Obervinschgau zusammen. Begrüßungsworte sprachen Roland Psenner, Präsident von Eurac Research, Heiko Hauser, Bürgermeister von Schluderns und Anton Patscheider, Präsident des Vintschger Museums. Für die Organisation der Tagung zeichneten Giulia Isetti und Michael de Rachewiltz vom Center for Advanced Studies von Eurac Research verantwortlich.

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Harald Pechlaner, Harald Gohm, Johannes Abart, Elisa Piras, Jana Ganzmann, Heiko Hauser, Luca Marrollo, Siegfried Gohm und Kurt GritschCredit: Eurac Research

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