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Doing Global Gender: Globalisierungswoche rückt Geschlechtergerechtigkeit ins Zentrum
Eurac-Tagung mit Judith Butler, Oyeronke Oyewumi, Ina Praetorius, Corey Wrenn, Sarah Trevisiol, Barbara Plagg und vielen mehr
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Bereits zum dritten Mal lud das Center for Advanced Studies von Eurac Research zur Globalisierungstagung - diesmal unter dem Titel „Doing Global Gender. Perspektiven zu Gender und Re-Globalisierung“. Mit Judith Butler oder Oyeronke Oyewumi ist es den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Forschungszentrum gelungen, die wohl bekanntesten Denker:innen der Gegenwart und Pionier:innen der Gender-Studies zum virtuellen Austausch nach Südtirol zu holen. Eine Podiumsdiskussion mit lokalen Expertinnen und Experten machte deutlich, dass sich die Gender-Debatte auch hierzulande als Querschnittsthema in allen Bereichen des Lebens und Wirtschaftens wiederfinden müsse.
Gender triggert und polarisiert. Allein die Nennung des Begriffes, der das soziale Geschlecht bezeichnet, löst mitunter heftige Reaktionen aus. Judith Butler, Maxine-Elliot-Professor:in für Vergleichende Literaturwissenschaft und Kritische Theorie an der Universität von Kalifornien, Berkeley, zeichnete im Vortrag „Wer hat Angst vor Gender?“ ein vielschichtiges Bild aktueller Anti-Gender-Bewegungen. In den meisten Fällen sind es Gruppierungen, welche eine kritische Auseinandersetzung und kritisches Denken generell ablehnen, Personen, die noch nie selbst einen der von ihnen angeprangerten Texte gelesen haben. Trotzdem stellen sie die in den letzten Jahren mühsam erworbenen Rechte und Freiheiten in Frage. Die Ehe für alle, Adoption, das Recht auf Abtreibung oder der gesetzliche Schutz vor Diskriminierung und Hassverbrechen sind leider keineswegs selbstverständlich, wie etwa die aktuelle Debatte am Obersten Gerichtshof der USA oder die Ablehnung des Antidiskriminierungsgesetzes DdL Zan im vergangenen Jahr in Italien zeigen. Das Scheitern jenes Gesetzesentwurfes wurde von Arianna Miriam Fiumefreddo, Präsidentin der LGBTI+ Vereinigung Arcigay Südtirol Centaurus, und Senatorin Julia Unterberger diskutiert. Auch hier wurde deutlich, wie sehr die bloße Nennung der Begriffe Geschlechteridentität und Gender rechte wie linke Gruppierungen gleichermaßen spaltet.
Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit ist Einsatz für globale Gerechtigkeit
Dabei geht es beim Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit um nichts weniger als den Einsatz für globale Gerechtigkeit. Nicht nur Frauen und jene, die sich als solche verstehen, stehen im Vordergrund, sondern alle Geschlechter, Männer genauso wie transgender und nicht-binäre Personen. Es geht darum, gesellschaftlich zugeschriebene Geschlechterrollen, Erwartungen und Machtpositionen zu hinterfragen. Geschlechterverhältnisse sind keine binären, naturgegebenen Tatsachen, sondern gesellschaftlich gemacht. Handlungsspielräume und Chancen veränderten sich im Laufe der Zeit und machen deutlich: Geschlechterverhältnisse sind wandelbar und gestaltbar. Und dass sie sich wandeln müssen, legen Daten offen, wie sie etwa die postpatriarchale Ethikerin Ina Praetorius präsentierte.
Oxfam, eine der weltweit größten Nothilfe- und Entwicklungsorganisationen, zeigte etwa in ihren Studien, dass nur acht Männer gleich viel Vermögen besitzen, wie die ärmsten 3,6 Milliarden Menschen zusammen oder, dass Frauen und Mädchen jeden Tag etwa 12,5 Milliarden Stunden an unbezahlter Pflege- und Hausarbeit leisten. Würden diese Stunden für Frauen ab 15 Jahren monetarisiert, wären es ganze 10,8 Billionen Dollar pro Jahr - das ist das Dreifache dessen, was die Tech-Industrie weltweit erwirtschaftet. Vielerorts ist der informelle Sektor größer als der formelle und es sind vor allem Frauen, die ihn tragen. Für sie bedeutet das allerdings: keine Arbeitsplatzsicherheit, keine Löhne, Ausbeutung, Missbrauch und Unsicherheit. Was nicht heißen müsse, dass es Frauen im formellen Sektor besser gehe. So werden im Billiglohnsektor vor allem Frauen angestellt, die unter ebenso ausbeuterischen Bedingungen arbeiteten.
Über diese Themen diskutierten die Klimaaktivistin und Mitbegründerin der Girls for Climate Action Joanita Babirye, Margaret McLaren, Professorin für Philosophie und Sexualität am Rollins College, USA, und die Frauenrechtsaktivistin Amy Oyekunle. Den langen Weg zur Chancengleichheit in Italien thematisierte auch Julia Unterberger. Wie halbherzig der Staat etwa die EU-Vorgaben dazu umsetzt, zeigt sich in der Elternzeit für Väter. In den meisten Ländern wurde eine 80-prozentige Lohnfortzahlung für Männer in Elternzeit vorgesehen, was vor allem in den Ländern Nordeuropas zu einer starken Inanspruchnahme des Vaterschaftsurlaubs und zu einem generellen Umdenken führte. Im strukturschwachen Italien, das ohnehin eine niedrige Frauenerwerbsquote aufweist, wurde eine Lohnfortzahlung von nur 30 Prozent beschlossen – mit dementsprechend geringer Inanspruchnahme.
Es liege nicht an den Frauen für ihre Gleichberechtigung zu kämpfen, sondern vor allem an den Männern, unterstrich Christoph May, Gründer des Instituts für kritische Männerforschung. Vor allem bei Männern werde die Widerständigkeit gegen Gender-Themen aus Ängsten gespeist, sagte Armin Bernhard, Dozent an der Freien Universität Bozen. Eine Erkenntnis aus der Südtiroler Männerstudie ist etwa, dass Männer, wenn sie nicht weiterwissen, häufig den Weg in die Aktion nehmen - und nicht ins Gespräch. Er blicke aber mit Hoffnung auf die jüngeren Generationen, etwa Fridays for Future, die keine Probleme damit mehr haben, ihre Sorgen und Ängste in den Mittelpunkt zu stellen und Allianzen zu bilden. Eine solche Allianz hat etwa die Humanbiologin Barbara Plagg mit der Gründung des Netzwerks Südtirol Sisters (SUSI) geschaffen. Doch treffe sie mit ihren gewollt frechen Forderungen immer wieder auf Widerstände – vor allem in der Politik. Zivilgesellschaftliches Engagement sei in Südtirol gar nicht gerne gesehen, doch habe enormes Potenzial, wenn es darum gehe, Wissen zum Thema Gender in alle Bereiche der Gesellschaft zu tragen und über den eigenen Tellerrand hinauszublicken.
Idealbild der Kernfamilie hinterfragen
Der eingeschränkte, oft elitäre Blickwinkel ist ein generelles Problem der Gender-Diskussion. Genauso problematisch sei es, dass die Debatte meist aus westlicher und weißer Perspektive geführt wird, wie Jane Bennett, Professorin für Afrikanische Feministische Studien an der Universität von Kapstadt unterstrich. Oyeronke Oyewumi, Professorin für Soziologie, Afrikanistik und Gender Studies an der Stony Brook University, Nigeria/USA, betonte in ihrem Vortrag, dass es vor allem das westliche Idealbild der Kernfamilie sei, welches das binäre Rollenverständnis fortschreibe - im Unterschied etwa zum vorkolonialen afrikanischen Familienbild, das viele fluide Identitäten vorsehe, die sich ergänzen, nicht ausschließen. Im Zuge der Globalisierungswoche wurde deutlich, wie wichtig es ist, eine intersektionelle Perspektive einzunehmen und die verschiedenen Formen von Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Invalidität, Nationalität und historischem Kontext, etwa in Zusammenhang mit der Kolonialisierung, zu berücksichtigen.
Geschlechtergerechtigkeit ist eng mit Sprache verbunden. Wenngleich es mühsam erscheinen mag, einen Text geschlechtergerecht zu formulieren, so zeigen genügend Beispiele, wie notwendig es ist, unsere Begrifflichkeiten zu überdenken. „Schon der Name des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wirft etwa die Frage auf, was denn nun Senioren, Frauen und junge Menschen gemeinsam haben, dass sie eine politisch gesonderte Behandlung brauchen. Nur eines: Sie passen nicht in das Modell des erwachsenen erwerbsfähigen Mannes, das immer noch als Standard zu dienen scheint“, unterstrich Praetorius und schlug stattdessen die Umbenennung des Ministeriums in ein Ministerium für geschlechter- und generationengerechte Sozialstrukturen vor. Ähnliche Bestrebungen verfolgt das Frauenmuseum Meran, wie dessen Direktorin Sarah Trevisiol in der Podiumsdiskussion in Bozen ankündigte. Man denke eine Statutenänderung und eine Umbenennung in Gendermuseum an, müsse aber erst klären, ob alle Partnerinnen und Partner des Museums diese Entscheidung mittragen.
Sexismus und patriarchale Systeme sind nicht zuletzt die Wurzeln der wachsenden sozialen Ungleichheiten, des ungleichen Zugangs zu Technologie und Information oder der Klimakrise, hob Corey Wrenn, Soziologin an der Universität Kent in ihrem Vortrag zu veganem Ökofeminismus hervor. So nutze der Umweltaktivismus den sexualisierten weiblichen Körper zum Spendenaufruf – etwa gegen die Pelzindustrie, wie Wrenn am Beispiel einer PETA-Werbekampagne kritisierte. Gleichzeitig werde eine politisch grüne Einstellung, vegetarische oder vegane Ernährung meist als weiblich konnotiert und das, wenngleich die Viehhaltung und der Fleischkonsum zu den größten Treibern des Klimawandels gehören und somit alle Geschlechter angehen sollte.
Die Webinarreihe wurde von den Eurac-Forschenden Mirjam Gruber, Linda Ghirardello, Silvia Gigante, Zoe Krueger Weisel und Katharina Crepaz moderiert. Durch die lokale Podiumsdiskussion führten Ingrid Kofler und Harald Pechlaner. Den einleitenden Vortrag zu Gender und Re-Globalisierung hielt Roland Benedikter. Roberta Bottarin, Vize-Direktorin von Eurac Research, richtete die Begrüßungsworte an das internationale Publikum.
Videoaufnahmen
The importance of the Gender Debate for Re-Globalization and vice versa - Roland Benedikter
Challenges for Re-Globalization & Gender - Joanita Babirye, Christoph May, Margaret McLaren and Amy Oyekunle
Who’s afraid of Gender? - Judith Butler
Debating gender justices in the context of the 4th Industrial Revolution - Jane Bennett
Towards a Care-Centered Global Economy - Ina Praetorius
Vegan Ecofeminism - Corey Wrenn
Glocal Gender: Herausforderungen für Südtirol | Le sfide per l'Alto Adige