Center for Advanced Studies - Transformation and Sustainability - News & Events - Mut und Gemeinschaft für gesellschaftliche und touristische Innovation im Vinschgau
Mut und Gemeinschaft für gesellschaftliche und touristische Innovation im Vinschgau
Orte neu denken in Schluderns und Stilfs
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Es ist kein Zufall, dass die Neu-denken-Reihe nun bereits zum fünften Mal im Vinschgau organisiert wurde. Die enge Zusammenarbeit des Center for Advanced Studies von Eurac Research mit den lokalen Partnern BASIS Vinschgau Venosta, der Bürger*Genossenschaft Obervinschgau und dem PNRR-Projekt „Stilfs - Resilienz erzählen“, die kritische Offenheit der lokalen Bevölkerung und die Expertise verschiedener Fachleute sorgten für spannende und ideenbringende Diskussionen. Die Vortragsabende in Schluderns und Stilfs waren der Innovation im ländlichen Raum und der Notwendigkeit einer neuen Tourismuskultur gewidmet.
Wer selbst im ländlichen Raum lebt, ist mit den Herausforderungen, die damit einhergehen, bestens vertraut: fehlende Infrastruktur, die Abwanderung junger Menschen, wenige Bildungsangebote oder Überalterung, um nur einige wenige zu nennen. Trotz alledem oder gerade deswegen, bietet der ländliche Raum auch das Potential für innovative Möglichkeiten, um zukunftsfähige Lebensmodelle und langfristige Lebensqualität zu gewährleisten. So viel wurde schon am ersten Veranstaltungstag der Reihe „Orte neu denken“ im Vinschger Museum VUSEUM in Schluderns klar, der von Heiko Hauser, Bürgermeister von Schluderns, Ghali Egger (BASIS Vinschgau Venosta), Michael Hofer (BürgerInnengenossenschaft Obervinschgau) und Harald Pechlaner, Tourismusexperte und Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research eröffnet wurde. Er betonte mehrmals die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, um die Bevölkerung mittels partizipativer Prozesse stärker einzubeziehen.
Die Resilienz einer Region sei von entscheidender Bedeutung, um auf akute Krisen und langfristige Veränderungen reagieren zu können, so die These von Rike Stotten, Soziologin an der Universität Innsbruck. Vor allem die Landwirtschaft spiele eine Schlüsselrolle in der Ernährungssicherheit, der Stabilisierung der Wirtschaft und der Förderung des sozialen Zusammenhalts, wie sie anhand der Fallbeispiele Obergurgl und Vent erklärte. Der Tourismus könne dann zur Resilienz beitragen, wenn er Synergien mit anderen Sektoren, wie etwa der Landwirtschaft eingehe. Eine monostrukturelle Herangehensweise zeige in der Forschung zwar finanzielle Vorteile, was aber Regionen tatsächlich stark mache, sei insbesondere die soziale Vielfalt.
Spannende Einblicke in die digitale Dorfentwicklung gab Nicole Zerrer, Kommunikationswissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung. Sie unterstützt mit ihrer Forschung verschiedene infrastrukturschwache Orte in Deutschland und sucht gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern nach digitalen Lösungen, um die Lebensqualität im ländlichen Raum zu steigern. Das reicht von der Entwicklung einer Dorf-App bis hin zur Etablierung von Telemedizinsitzungen. Aus der Arbeit mittels digitaler Tools entwickelten sich auch neue soziale Beziehungen in der analogen Welt und wieder neue Räume, in denen schließlich auch weitere gemeinsame Projekte entstehen und Aufmerksamkeit für kleine Orte geschaffen werden konnten.
Im Anschluss an die Vorträge der beiden Expertinnen war das Publikum gefragt. Eine Gruppendiskussion zum Thema „Brain-Drain“, also zur Abwanderung von Talenten, kam zum Schluss, dass es ein positives Narrativ brauche. Es bringe nichts, wiederholt von der strukturschwachen Region zu sprechen, vielmehr müsse es darum gehen, die vielen Vorteile ländlicher Gemeinden mit Selbstbewusstsein hervorzuheben. Auch seien Betriebe und Unternehmen in der Region gefragt, neue Talente aktiv anzusprechen und anzuwerben. Das könne direkt an den Universitäten, Oberschulen und Fachschulen geschehen.
Ambition Lebensraum Südtirol – Die Frage nach einer neuen Tourismuskultur
Das Landestourismusentwicklungskonzept wird landauf landab scharf diskutiert und kritisiert. Am zweiten Abend der Neu-denken-Reihe war es Thema im Haus der Dorfgemeinschaft in Stilfs. Eröffnet wurde der zweite Veranstaltungstag mit Grußworten von Vize-Bürgermeister Armin Angerer.
„Es geht darum, die Lebenswelt der Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und durch soziale und gesellschaftliche Innovation ein attraktives Lebensmodell für die Zukunft zu gestalten“, unterstrich Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies und wissenschaftlicher Direktor des Landestourismuskonzeptes 2030+. Er betonte, dass die Tourismuspioniere Südtirol zwar zu Wohlstand gebracht hätten, nun aber Wertschöpfung gefragt sei und die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung einbezogen werden müssten. Stilfs stehe in den kommenden Jahren vor einer wichtigen Aufgabe, denn es gehe darum, nicht nur lokale Probleme zu lösen, sondern auch Vorreiter für ganz Südtirol zu sein. Auch der Tourismus könne ein Leitphänomen für eine nachhaltige und resiliente Entwicklung sein. Dazu müsse der Sektor aber auch Bereitschaft zeigen, diese Verantwortung zu übernehmen. Laut Harald Gohm, Standortentwickler und Forscher am Center for Advanced Studies, beruhe der Erfolg der alpinen Tourismusziele auf Mut und Offenheit für neue Technologien. Der Alpenraum könne als Zukunftslabor in Zeiten des globalen Wandels gesehen werden. Was es brauche, sei eine branchen- und sektorenübergreifende Zusammenarbeit sowie eine positive Grundeinstellung zur Zukunft.
Podiumsdiskussion zum Landestourismusentwicklungskonzept 2030+
Über verschiedene Konzepte von Tourismusentwicklung im lokalen Kontext der Ortlerregion wurde in der Podiumsrunde mit örtlichen Tourismusfachleuten und Stakeholdern weiterdiskutiert. Das Landestourismusentwicklungskonzept, die erforderlichen Maßnahmen und die Vision hätten klarer kommuniziert werden müssen, um die Branche auf dem Weg tatsächlich mitzunehmen, unterstrich Adrian Gamper von der Ferienregion Ortlergebiet. „Der Tourismus hat enorme gesellschaftliche Kraft“, betonte Heinrich Tumler von den Seilbahnen Sulden. Auch in Stilfs seien viele Menschen noch nicht abgewandert, weil sie Arbeit im Tourismus haben. Von Overtourismus und touristischen Hotspots sei der Vinschgau noch weit entfernt. Man müsse sich nur vor Augen halten, dass es in Südtirol Orte gebe, die gleich viele Betten hätten, wie der gesamte Vinschgau. Auch deshalb sei es schwierig, ein Konzept über ein ganzes Land zu stülpen. „Es braucht Leitbilder, es braucht Innovation und es braucht auch Qualitätskriterien“, sagte Philipp Reinstadler vom Hotel „Cristallo“. Der Tourismus trage Verantwortung für den Wohlstand und Fortbestand von Dorfgemeinschaften. Entwicklung und Zuwachs in gewissen Bereichen und einem gewissen Rahmen seien daher auch weiterhin wichtig. Die Bettenstopp-Diskussion habe die vielfältigen Inhalte des Konzeptes komplett überlagert, bedauerte Kurt Sagmeister von IDM-Südtirol. Der Tourismus sei rein branchenbezogen an eine Grenze des Wachstums gestoßen. Wo er aber wachsen könne, sei in der Kooperation, etwa mit der Landwirtschaft. Wenn die Anzahl der Nächtigungen vor einigen Jahren noch der Maßstab für Erfolg gewesen sei, so sei es heute die Einbindung der Bevölkerung und die Kooperation mit anderen Sektoren. Auch das PNRR-Projekt „Stilfs – Resilienz erzählen“ wurde von Beginn an als Chance der Begegnung und Diskussion gesehen, betonte die Sozioökonomin Daria Habicher. Die Schnittstelle zwischen Tourismus und Landwirtschaft nehme auch in den Maßnahmen für die resiliente Ortsentwicklung eine zentrale Stelle ein. Es gehe darum, das Potential von Begegnungen mit Menschen von außen wahrzunehmen und neue Impulse für das Dorf zu gewinnen. Dazu gehören neben vielen anderen Initiativen auch die Etablierung eines Artists in Residence-Programmes, ein Albergo Diffuso, Streumärkte oder die Wiederbelebung alten Handwerks.
Die Veranstaltungsreihe „Orte neu denken“ wurde vom Center for Advanced Studies von Eurac Research in Zusammenarbeit mit BASIS Vinschgau Venosta, der BürgerInnengenossenschaft Obervinschgau und dem PNRR-Projekt „Stilfs - Resilienz erzählen“ organisiert. Die Abende wurden von Kevin Prantl (in Schluderns), Gernot Niederfriniger, Bernadette Kathrein und Christof Amenitsch (in Stilfs) musikalisch umrahmt. Die Sozialgenossenschaft Vinterra sorgte für die regionale Kulinarik. Für die Organisation der Tagung zeichneten Valentin Wallnöfer, Giulia Isetti, Elisa Piras und Michael de Rachewiltz verantwortlich.