magazine_ Interview
„Jeder Unfall im Gebirge ist per se ein Notfall.“
Hermann Brugger über das wohl umfassendste Standardwerk zu Rettungseinsätzen im Gebirge, das jetzt auch auf Deutsch erhältlich ist
Hermann Brugger, Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin, ist Herausgeber des wohl umfassendsten Standardwerks zu Rettungseinsätzen im Gebirge. Auf 700 Seiten fassen 80 Autoren den aktuellen Stand auf diesem Gebiet zusammen, vom Unfall durch Blitzschlag, der Bergung von Lawinenopfern bis hin zur höhenbedingten Psychose.
Herr Brugger, auf dem Foto mit Buch sehen Sie zufrieden, aber auch etwas müde aus? War das Standardwerk „Mountain Emergency Medicine“ ein großer Kraftakt?
Brugger: (lacht) Wir – und das sind 80 Autoren, Anästhesisten, Notfall- und Intensivmediziner, aus aller Welt - haben in der Tat sehr lange am Standardwerk „Mountain Emergency Medicine“ gearbeitet. Ingesamt vier Jahre. In 48 Kapiteln behandeln wir auf 700 Seiten sämtliche Themen der Notfallmedizin in schwer zugänglichem Gebirgsgelände, aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln – von der terrestrischen Bergung über die Helikopterbergung bis hin zu ganz speziellen Krankheitsbildern in Höhenlagen wie Erfrierungen, Höhenlungenödem usw. und die Erstbehandlung vor Ort. Ich habe allerdings auch das Buch am späten Abend ausgepackt. Die Freude war riesig. Ich musste diesen Moment fotografisch festhalten und das Foto allen Beteiligten schicken. Normalerweise hätten wir diesen Moment an unserem Institut für Alpine Notfallmedizin groß gefeiert.
Aus Ihrem Institut haben vier Autoren am Standardwerk mitgeschrieben. Sie sind gemeinsam mit Größen aus der Notfallmedizin wie Ken Zafren, Luigi Festi und Peter Paal der Herausgeber. Giacomo Strapazzon, ihr Kollege am Institut und ebenfalls Mitherausgeber, nennt das Werk einen Meilenstein für die alpine Notfallmedizin.
Brugger: Da hat er nicht unrecht. So ein Sammelwerk gab es bislang nicht. 1974 erschien die erste Auflage des Standardwerks für Notfallmedizin von Tintinalli. Es ist heute noch – und wir sind inzwischen bei Auflage Nummer 9 – das Referenzwerk für angehende Notfallmediziner. Die alpine Notfallmedizin gibt es noch nicht so lange und unser Institut ist bislang das einzige mit einem klaren Forschungsauftrag auf diesem Gebiet. In den 1990er Jahren kamen die ersten Studien heraus, seit circa 15 Jahren gibt es eine Explosion an Literatur. In den letzten Jahren haben wir dazu beigetragen, dieses Fachgebiet wissenschaftlich bekannt zu machen. So gesehen war es folgerichtig dass wir die Herausgabe dieses Werks in die Hand nehmen. Wer sich in dieser Disziplin spezialisierte, musste sich bislang durch ein Meer an loser Literatur und Publikationen arbeiten. Es gab kein Referenzwerk, das das gesammelte Wissen wiedergab.
Das Institut für Alpine Notfallmedizin ist bislang das einzige mit einem klaren Forschungsauftrag auf diesem Gebiet.
Nun halten Sie es in den Händen! Was unterscheidet die alpine Notfallmedizin von der herkömmlichen?
Brugger: Müsste ich es mit einem Wort umschreiben: die extreme Location. Alpine Notfallmedizin ist das, was weit außerhalb des Krankenhauses und im unwegsamen Gelände passiert, dort wo kein Ambulanzwagen hinkommt. Im Krankenhaus werden Verletzte in der Notfallaufnahme erstversorgt. Ärztinnen und Ärzte sind in einem sicheren Umfeld, kennen jeden Handgriff, jedes Protokoll und können auf sämtliche Geräte und Expertisen zurückgreifen. Im Extremgelände gelten andere Gesetze. Eine terrestrische Bergung und Erstversorgung ist mit einem enormen Aufwand verbunden, was materielle- und Humanressourcen betrifft. Und dann ist sie für alle Beteiligten – nicht nur den Verletzten – gefährlich. Das liegt am Gelände, an der Höhe, am Extremklima. Ein Unfall im Gebirge ist per se ein Notfall, auch wenn es sich um eine leichte Verletzung handelt. In unserem Buch gehen wir auf all diese Aspekte ein und schaffen etwas mehr Klarheit fürs Extreme.
Alpine Notfallmedizin ist das, was weit außerhalb des Krankenhauses und im unwegsamen Gelände passiert, dort wo kein Ambulanzwagen hinkommt.
Hermann Brugger
Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung aus? Gibt es ganz spezielle Verletzungen oder Krankeitsbilder in der alpinen Notfallmedizin?
Brugger: Je nach Jahreszeit, Höhe und Aktivität gibt es Erfrierungen, Brüche, Prellungen, Quetschungen, offene Wunden, innere Blutungen… Wobei wir im Buch die Verletzungen nach Art des Unfalls kategorisieren, etwa Lawinenunfall, Spaltenunfall, Kletterunfall, Canyoning Unfall… bis hin zum Flugunfall und Blitzschlag. Jedem Unfall widmen wir ein oder mehrere Kapitel, und decken alle Themen ab, vom Rettungseinsatz, der Ausrüstung, über die Bergung, Erstdiagnose und Versorgung vor Ort bis hin zum Transport ins Krankenhaus. Und natürlich widmen wir uns intensiv den typischen Krankheitsbildern im Hochgebirge: der akuten Höhenkrankheit, dem Höhenlungenödem und dem Höhenhirnödem.
Ihre Forschergruppe hat schon in der Vergangenheit für Schlagzeilen in der notfallmedizinischen Forschung gesorgt, etwa bei den Richtwerten zur Wiederbelebung stark unterkühlter Unfallofper.
Brugger: Wir haben gemeinsam mit Kollegen aus Europa, Kanada und den USA neue Richtwerte für die Körpertemperatur und die Konzentration von Kalium im Blutserum ermittelt. Wenn ein Verunglückter stark unterkühlt ist und keine Herz-Kreislauffunktion mehr zeigt, können gewisse Befunde schon bei der Bergung ein Indiz dafür geben, ob eine Wiederbelebung im Krankenhaus erfolgreich sein könnte. Diese erfolgt durch Wiedererwärmung mit einer extrakorporalen Kreislaufpumpe, kann also nur in größeren Krankenhäusern passieren und ist sehr aufwändig. Auch in Bozen befinden sich seit Kurzem solche Geräte.
Die Alpen verfügen weltweit über die beste Helikopterflotte zur Rettung im Gebirge und über die am besten ausgerüsteten und ausgebildeten Bergrettungsdienste.
Hermann Brugger
Sind diese neuen Erkenntnisse auch in das Standardwerk eingeflossen?
Brugger: Natürlich. Und auch das ganz neue Krankheitsbild, auf das wir gestoßen sind: die isolierte höhenbedingte Psychose. Bislang dachte man, dass Halluzinationen in extremer Höhe auf die akute Höhenkrankheit zurückzuführen sind und gemeinsam mit dem Hirnhöhenödem auftreten. Wir wissen jetzt, dass psychotische Episoden, in denen Extrembergsteiger Personen und Dinge sehen und hören, die es nicht gibt, ein ganz eigenes Krankheitsbild darstellen. In extremer Höhe hat diese isolierte Psychose so manch einem Bergsteiger das Leben gekostet. All diese Informationen können angehende alpine Notfallmediziner und Bergretter nun im Sammelwerk nachlesen.
Ihr Buch ist auf Englisch erschienen, obwohl nur eine Handvoll der Autoren englischer Muttersprache sind.
Brugger: Auch deshalb hat es wohl etwas länger gedauert… (lacht). Die Notfallmedizin ist in den 1990er Jahren in Europa entstanden. Die Alpen verfügen weltweit über die beste Helikopterflotte zur Rettung im Gebirge und über die am besten ausgerüsteten und ausgebildeten Bergrettungsdienste. Ein Verunfallter wird bei uns in der Regel von einem Notarzt versorgt. In den USA zum Beispiel leisten hingegen Paramedics, das sind Notfallsanitäter, die Erstversorgung vor Ort. Das Buch beinhaltet hochspezialisiertes Fachwissen, das wir hier in den Alpen seit den 1990er Jahren systematisch aufgebaut haben. Nun wollen wir dieses Wissen anderen weltweiten Bergregionen zukommen lassen, deren Rettungsdienste noch im Aufbau begriffen sind.
Hermann Brugger
- 2009-Heute: Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin, Eurac Research
- 2006: Habilitation in Notfallmedizin, Medizinische Universität Innsbruck
- 2006-Heute: Privatdozent und Lehrbeauftragter, Medizinische Universität Innsbruck
- 1983- 2018: Arzt für Allgemeinmedizin (Bruneck), Notarzt und Bergrettungsarzt
- 2016-Heute: Präsident der International Society of Mountain Medicine ISMM
- 2001-2009: Präsident der Internationalen Kommission für Alpine Notfallmedizin ICAR MEDCOM
Liste seiner Publikationen
Zum Buch
Alpine Notfallmedizin
Herausgeber: Matthias Jacob, Hermann Bugger
Veröffentlichungsdatum: 20. Juni 2023
Seitenanzahl: 800
ISBN: 9783437151026
Das Standardwerk kann hier bestellt werden: https://shop.elsevier.de/alpine-notfallmedizin-9783437151026.html
Buchvorstellung in englischer Sprache.