Center for Advanced Studies - Transformation and Sustainability - News & Events - Sextner Kamingespräche: Der Tourismus muss selbst Denkprozesse anstoßen
Sextner Kamingespräche: Der Tourismus muss selbst Denkprozesse anstoßen
Eurac Research, Sexten Kultur und der Tourismusverein Sexten stellen leistbares Wohnen und die soziale Verantwortung des Tourismus in den Fokus der Sextner Kamingespräche
- Deutsch
- English
- Italiano
Hohe Immobilienpreise, steigender Mietzins und kaum mehr Möglichkeiten, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Die Südtirolerinnen und Südtiroler stehen vor großen Herausforderungen. In der öffentlichen Debatte rund um die Wohnungsknappheit wird auch die Rolle des Tourismus kritisch diskutiert. So auch bei den diesjährigen Sextner Kamingesprächen „Wohnraum – Sozialer Zündstoff der Zukunft?“ am 02. Oktober im Haus Sexten, bei denen sich Fachleute aus der Tourismusbranche, aus Architektur und Wissenschaft gemeinsam mit dem interessierten Publikum über mögliche Lösungen austauschten.
Leben, wo andere Urlaub machen: Ein lange Zeit verheißungsvoller Slogan ist mittlerweile fast zum Fluch verkommen. Denn es lebt – und vor allem – es wohnt sich nicht mehr so gut in Südtirol. Die Frage des Wohnens ist längst zu einer der drängendsten sozialen Fragen geworden, und auch die Tourismusbranche muss sich ihrer sozialen Verantwortung stellen, so der Tenor der siebten Sextner Kamingespräche. Es ist eine Problematik, die Südtirol mit anderen Tourismusregionen teilt. Parallelen lassen sich etwa zu Garmisch-Partenkirchen herstellen, wie Christian Steiner, Professor für Humangeographie an der Katholischen Universität Eichstätt‐Ingolstadt darlegte. Das gesellschaftliche Versprechen des Aufstiegs durch Arbeit und Bildung sei nicht mehr gültig. Die lokale Bevölkerung werde vom lokalen Immobilienmarkt verdrängt und selbst junge Menschen aus eingesessenen Familien seien gezwungen, anderswo nach Wohnraum zu suchen. „Vor allem die Ferienwohnungen werden zum Problem“, unterstrich Steiner. Die habe es zwar früher auch schon gegeben, was sich aber verändert habe, seien die Professionalisierung und Digitalisierung der Ferienwohnungsvermittlungsagenturen. „Es werden Komplettpakete für Ferienwohnungseigentümer angeboten, sodass diese vom touristischen Prozess gänzlich entkoppelt sind. Gleichzeitig ist die Qualität am Markt extrem gestiegen, was wiederum lukrativ für Investoren aus dem Ausland ist, die aber im Grunde wenig Ahnung von den Orten selbst haben. Am Ende geht es um mehr als den Verlust an Wohnraum oder Zukunftsmöglichkeiten. Investoren und Zweitwohnungsbesitzende sind nicht in lokalen Feuerwehren, Sportvereinen, Sozialverbänden oder in Kultureinrichtungen aktiv. Doch für eine tatsächlich nachhaltige Regionalentwicklung muss man sich auch für das Gemeinwohl einbringen.“
Bildergalerie
Tourismus kann noch immer „Agent of Change“ sein
„Es braucht Fantasie für das Undenkbare, für alternative Entwicklungen und auch radikale Veränderungen“, betonte Andreas Flora. Er ist freischaffender Architekt und lehrt am Institut für Gestaltung der Universität Innsbruck. Im 19. Jahrhundert habe der Tourismus die hintersten Bergtäler auf den Kopf gestellt und auch gegenwärtig habe er noch das Potential ein „Agent of Change“ zu sein. „Wichtigstes Kapital des Tourismus ist die intakte Naturlandschaft und das stimmt mich optimistisch, dass die Branche sich auch für deren Schutz einsetzt. Der Schutz darf sich aber nicht nur auf die Berggebiete beschränken. Die Tallandschaften sind für die Ökologie ebenso wichtig“. Es gelte daher, unkonventionell zu denken, etwa an neue Siedlungsarchipele auf bereits intensiv genutzten Flächen wie etwa Skipisten, an autofreie Mobilitätslösungen mittels Seilbahnen, an Mehrgenerationenhäuser oder an vertikale Städte.
Einer ähnlichen Argumentation folgte Ivan Bocchio vom Institut für Technologie und Architektur an der ETH Zürich. „Jede und jeder denkt an das eigene Haus, die eigene Wohnung, das eigene Hotel, das eigene Zimmer. Doch unsere Wohnungen sind nur so schön, wie die Straße, die Plätze, die Wiese, auf die wir schauen!“ Man müsse weg vom Kubaturdenken und hin zu einem gemeinsamen Gesamtbild kommen.
Soziale Entwicklung ist genauso wichtig
„Entwicklung kann nur im Einklang mit der Bevölkerung geschehen“, weiß auch Daria Habicher, Projektverantwortliche des PNRR-Projektes der Gemeinde Stilfs zu Aufwertung und Wiederbelebung des Dorfes im Vinschgau, das besonders stark von Abwanderung betroffen ist. Bei allen Entwicklungen, die derzeit vonstattengehen, komme die soziale Entwicklung nicht nach. Wenn Tourismus Veränderungskraft sein will, muss die Branche auch neue Arbeits- und Organisationsmodelle zulassen und sich etwa auch damit auseinandersetzen, was es bedeutet, wenn junge Vertreterinnen und Vertreter der Branche an Schrumpfung anstatt Erweiterung denken.
In Bad Gastein hingegen entstehen gerade hunderte neue Betten. Dafür fand Evelyn Ikrath klare und kritische Worte: „Was nicht entsteht, sind Wohnraum, Mobilitätslösungen und Kinderbetreuung für die Menschen, die in der Destination leben und arbeiten - nicht nur in Zeiten des Fachkräftemangels ein fahrlässiges Versäumnis. Investoren sind nicht die Lösung und auch auf die Politik kann man nicht immer warten. Der Tourismus muss selbst Denkprozesse anstoßen.“ Dem stimmte auch Lukas Krösslhuber, Geschäftsführer des Tourismusverbands Wilder Kaiser zu. Als Tourismusverband habe man sich freiwillig dazu entschieden, keine zusätzlichen Betten mehr zuzulassen und dafür bestehende Kapazitäten besser zu nutzen und die Branche in Sachen Neuausrichtung beratend zu unterstützen. Auch illegale Zweitwohnsitze versuche man mittels Kontrollgremien ausfindig zu machen und zu unterbinden.
Die Tourismusbranche müsse proaktiver werden, betonte Harald Pechlaner, Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research und Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt‐Ingolstadt zusammenfassend. Vor allem in Südtirol sehe man touristisch hochentwickelte Orte, die der Entwicklung in vielen anderen Bereichen aber weit hinterherhinken. Man brauche auf Ortsebene klare Vorstellungen, wer in den Tälern, Orten und Städten zukünftig leben soll und wie diese Orte aussehen sollen.
Die Sextner Kamingespräche wurden vom Center for Advanced Studies von Eurac Research, dem Tourismusverein Sexten und Sexten Kultur organisiert. Die Grußworte überbrachte Christoph Rainer, Präsident des Vereines Sexten Kultur.
Keynote-Präsentationen
Vergangene Ausgaben
2022 | Sextner Kamingespräche "Von der Destination zum Lebensraum – Partizipation als Königsweg?"
MEHR ERFAHREN- 2020 | Vortragsabend im Rahmen des GMS Forum: "Respekt vor dem wertvollen Naturraum der Berge"
- MEHR ERFAHREN