magazine_ Interview
„Vor 20 Jahren glaubte man, Migration sei in Südtirol kein Thema“
Gespräche zwischen Disziplinen: Die Linguistin Andrea Abel und der Jurist Günther Rautz im Interview.
Minderheiten und Mehrsprachigkeit: Die Forschungsbereiche von Günther Rautz und Andrea Abel sind in Südtirol gesellschaftspolitisch so zentral wie sensibel – und ein deutlicher Spiegel, wie diese Gesellschaft sich verändert. Der Jurist Rautz hat deshalb mit seinem Team schon früh begonnen, auch zu neuen Minderheiten zu forschen, die Linguistin Abel plädiert dafür, Mehrsprachigkeit in einem umfassenden Sinn zu verstehen, der alle Sprachen und Varietäten einbezieht. Beide in der Überzeugung, dass Vielfalt einen hohen Wert darstellt.
Frau Abel, wir möchten eine neue Fremdsprache lernen, für die wir in Zukunft in Südtirol auch sicher Verwendung haben – wozu raten Sie uns?
Andrea Abel: Chinesisch oder Arabisch wären eine gute Idee. Damit kann man sich große Kulturräume erschließen, aber auch Kenntnisse darüber, wie andere Sprachen funktionieren. Da gibt es nämlich grundlegende Unterschiede zu unseren europäischen Sprachen Und das ist unglaublich spannend. Chinesisch etwa hat keine Grammatik, wie wir sie allgemein kennen. So haben Substantive kein Geschlecht, und sie werden auch nicht dekliniert. Und Chinesisch ist eine Tonsprache. Das heißt, dass Wörter je nach Ton eine andere Bedeutung bekommen.
"Man kann davon ausgehen, dass die in Südtirol präsenten Sprachen weit über 100 sind."
Andrea Abel
Sie forschen seit fast 25 Jahren im Bereich der Mehrsprachigkeit. Wie hat sich die Sprachlandschaft in Südtirol über diesen Zeitraum verändert?
Abel: Stark. Laut Daten des statistischen Landesamtes (Astat) lag die ausländische Wohnbevölkerung Ende der 1990er Jahre bei 10.000 Menschen, 2020 waren es an die 50.000. Die wichtigsten Herkunftsländer sind Albanien, Deutschland, Pakistan, Marokko, Rumänien, Kosovo. Insgesamt leben in Südtirol Menschen aus 140 Ländern. Man kann daraus nicht direkt auf die gesprochenen Sprachen schließen, wie das Beispiel Pakistan zeigt, wo mehr als 50 Sprachen verwendet werden. Aber man kann davon ausgehen, dass die in Südtirol präsenten Sprachen weit über 100 sind. Aus unseren Studien wissen wir, dass in einer durchschnittlichen städtischen Mittelschule rund acht unterschiedliche Sprachen gesprochen werden.
Hat die buntere Sprachlandschaft über die Jahre auch die Sprachdidaktik verändert?
Abel: Auf jeden Fall. Laufend. Es gibt viele unterschiedliche Ansätze in der Mehrsprachigkeitsdidaktik. Ein Schlagwort ist der sprachsensible Unterricht. Es muss heute mehr Rücksicht darauf genommen werden, dass Schülerinnen und Schüler in der Klasse weder Deutsch, Italienisch noch Ladinisch als Erstsprachen haben.
Herr Rautz, sie beschäftigen sich ebenfalls seit 25 Jahren mit dem Thema Minderheiten, Migration und Integration. Längst schon spricht man in Südtirol von alten – Deutschsprachige und Ladinischsprachige – und neuen Minderheiten. Sind die alten Minderheiten damit etwas weniger Minderheit? Oder anders gefragt: Hat die Präsenz neuer Minderheiten zu einer Annäherung zwischen den deutschsprachigen, ladinischsprachigen und italienischsprachigen Südtirolern geführt?
Günther Rautz: Südtirol ist europaweit ein absoluter Sonderfall mit drei anerkannten Sprachgruppen. Aufgrund der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung sind wir ständig mit der Mehrheits- und Minderheitensituation konfrontiert, das reicht von der politischen Vertretung, über Medien, bis hin zu den Schulsystemen. Je nachdem, wo ich lebe, und in welchem Umfeld ich mich bewege, kann ich mich mal der Mehrheit, mal der Minderheit zugehörig fühlen, und das kann sich situationsbedingt an einem Tag auch mehrfach ändern. Die Menschen mit Migrationshintergrund machen über zehn Prozent der Bevölkerung aus, das ist mehr als der Anteil der ladinischen Sprachgruppe; sie stellen aber keine geschlossene vierte Gruppe dar. Sie müssen sich, soweit es ihr Status erlaubt, für eine der drei Sprachgruppen entscheiden. So gesehen hat sich durch die Zuwanderung nicht wirklich etwas am System und am Verhältnis der drei Sprachgruppen untereinander geändert, es ist höchstens eine weitere Nuance hinzugekommen.
Abel: Wir haben kürzlich in einer Pilotstudie Eltern mit Migrationshintergrund befragt. Einige haben uns berichtet, wie belastend für sie die Entscheidung ist, ob sie ihre Kinder in die deutsche oder italienische Schule schicken sollen. Und die Entscheidung ist wirklich weitreichend, weil die Sozialisierung zunächst einmal in einer relativ einsprachigen Welt erfolgt. Auch die Schulen sind da im Zwiespalt, auf der einen Seite bedeuten viele Sprachen in einer Klasse eine Herausforderung, auf der anderen möchte man die eigene Sprachgruppe stärken, und da ist es von Vorteil, wenn man neue „Sprachgruppenzugehörige“ anwirbt.
Steckt also auch politisches Kalkül dahinter, wenn die Anzahl der Kinder, die nicht eine der drei Landessprachen als Muttersprache haben, in der deutschsprachigen Schule zunimmt?
Abel: Nachdem die Schule große Auswirkung auf die Sprachsozialisierung der Kinder hat, ist Ihre Frage berechtigt. Dennoch, glaube ich, ist der Auftrag der Schule in Südtirol grundsätzlich jener, Kindern unterschiedlicher Herkunft möglichst gleichwertige Bildungschancen zu bieten. Die Schule handelt zunächst einmal nicht aus politischem Kalkül. Und im Augenblick wird eher der Aspekt Herausforderung thematisiert.
Rautz: Was in Südtirol sicher nicht betrieben wird, ist eine aggressive Sprachassimilierungspolitik wie etwa in Katalonien. Dort wird tatsächlich Katalanisierungspolitik betrieben, um sich gegenüber Spanien stärker zu positionieren. Das geht sogar so weit, dass etwa Hollywood-Blockbuster ins Katalanische übersetzt werden.
Wäre nicht eine zwei- oder mehrsprachige Schule von Vorteil, damit Kinder und Jugendliche in Südtirol künftig in weniger getrennten Welten aufwachsen?
Abel: Das kann natürlich ein Vorteil sein. Man müsste allerdings auch diskutieren, inwiefern ein solches Modell, das im öffentlichen Diskurs insbesondere die Sprachen Deutsch und Italienisch bzw. teilweise auch Englisch betrifft, vor dem Hintergrund zunehmender sprachlicher Heterogenität noch zeitgemäß ist. Und wenn man eine sogenannte zweisprachige Schule andenkt, ist auch zu überlegen, ob die Organisation der Schulen in politisch und administrativ getrennten Systemen dazu geeignet ist. Da müsste man ganz neue Wege andenken.
Rautz: OSZE-Delegationen, Minderheiten- und Staatsvertreter aus Krisengebieten haben sich bei ihren Besuchen in Südtirol in Bezug auf Schule immer stark für das ladinische Schulmodell interessiert. Das ist eine paritätische Schule, in der vereinfacht gesagt 50 Prozent der Fächer in Deutsch und 50 Prozent in Italienisch unterrichtete werden. Das Ladinische ist eine Hilfssprache. Der Eindruck besteht, dass das Ladinische nicht unter die Räder kommt, und dass die Schüler Deutsch und Italienisch als Zweitsprachen besser beherrschen als im Rest Südtirols. Da es nur die paritätische Schule gibt, lernen Kinder mit Migrationshintergrund in ladinischen Gemeinden gleich drei zusätzliche Sprachen, und das klappt.
Abel: Das ladinische Modell ist sicherlich spannend. Es ist ganz klar darauf ausgerichtet, die Mehrsprachigkeit der Kinder zu fördern. Interessant finde ich: Wenn die ladinische Schule bei standardisierten Lernstandserhebungen des Istituto Nazionale per la Valutazione del Sistema Educativo di Istruzione e di Formazione (INVALSI) bisweilen schlechter abschneidet als die italienische oder deutsche, dann wird dort argumentiert, der angesetzte Maßstab sei nicht angemessen: Die Tests orientieren sich an einer einsprachigen Norm, die Mehrsprachigkeit ladinischer Kinder und Jugendlichen wird hingegen nicht berücksichtig, schon gar nicht positiv. Dieses Argument hat seine Berechtigung.
Herr Rautz, Sie kommen ursprünglich aus Kärnten, das auch eine Sprachminderheit hat, die Slowenen. Stellen Sie da als Forscher schon mal Vergleiche an? Und hilft Ihnen Ihr Blick von außen bei der Analyse der Südtiroler Situation?
Rautz: Ich lebe nun schon länger in Südtirol als in Kärnten und fühle mich hier zu Hause. Vergleiche stelle ich natürlich an: So kann man in den 1950er und 1960er Jahren die Situation der Ladiner in Südtirol noch mit jener der Kärntner Slowenen vergleichen, der Assimilierungsdruck war sehr hoch. Mit der Umsetzung des zweiten Autonomiestatuts – das 2022 übrigens 50 Jahre feiert – bekommt Südtirol eigene Kompetenzen, die für einen riesigen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aufbruch sorgen, zunächst einmal für die deutsche Sprachgruppe, aber die ladinische war im positiven Sinne Trittbrettfahrer. Als Angehöriger einer Minderheit wurde man so in Südtirol selbstbewusster. In Kärnten ist es ab 1972 mit dem „Ortstafelsturm“ – der gewaltsamen Demontage zweisprachiger Ortstafeln – in die gegensätzliche Richtung ausgeschlagen, was den Wert einer Sprache und der eigenen Kultur betrifft. Es gab massiven Assimilierungsdruck von Deutschkärntner Seite. In den 1970er und 1980er Jahren war es plötzlich nicht mehr opportun, in der Öffentlichkeit Slowenisch zu sprechen. Ich bin in diese Zeit hineingeboren und habe, obwohl ich im zweisprachigen Gebiet aufgewachsen bin, Slowenisch nie gelernt. Die Situation hat sich erst 2004 mit dem Beitritt Sloweniens zur EU geändert. Heute wird wieder mehr Slowenisch gesprochen und in den Schulen unterrichtet. Allerdings sind ein bis zwei Generationen verloren gegangen, die weder die slowenische Sprache noch Kultur weitergegeben haben.
Die Themen, mit denen Sie sich befassen, Mehrsprachigkeit und Migration, sorgen immer wieder für medialen Zündstoff. Beeinflusst das Ihre Forschungsarbeit?
Abel: Zentral ist: Wenn ich Mehrsprachigkeit als einen Wert anerkenne, was Südtirol grundsätzlich tut, dann kann ich diese evidenzbasiert erforschen. Und genau das machen wir. Wir untersuchen, wie Mehrsprachigkeit funktioniert, wie Spracherwerb im mehrsprachigen Kontext erfolgt, welche mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansätze erfolgreich sind usw. Aber natürlich kann auch bei klarer Prämisse der eine oder andere Projektpartner abspringen, weil ihm die Ergebnisse der Studien politisch nicht opportun erscheinen – so geschehen etwa bei einer Studie zu den Zweitsprachenkompetenzen Südtiroler Oberschülerinnen und Oberschüler vor etwa fünf Jahren, die teilweise Ergebnisse hervorgebracht hat, die man sich nicht erwartet hatte. Dass wir sauber und transparent gearbeitet haben, konnten wir auf jeden Fall gut zeigen.
Rautz: Auf gesellschaftspolitisch sensible Fragen muss man wissenschaftlich präzise antworten. Daten müssen doppelt und dreifach überprüft werden. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Auftragsforschung und Forschung aus Eigeninitiative. Vor allem in der Auftragsforschung kann es vorkommen, dass der Auftraggeber eine gewisse Erwartungshaltung hat. Da gilt es umso mehr, den wissenschaftlichen Standard beizubehalten. Das heißt, auch den Auftraggeber rechtzeitig dafür zu sensibilisieren, dass die Ergebnisse nicht die sein könnten, die er sich erwartet. Und natürlich muss ich als Wissenschaftler auch damit leben können, dass ich kritisiert werde oder ein Ergebnis politisch ausgeschlachtet wird. Wenn ich aber auf die 25 Jahre zurückblicke, die ich schon in Südtirol forsche, dann hat Eurac Research immer starkes Rückgrat gezeigt. Eine konsequente Arbeit, die auf lokaler und internationaler Ebene Früchte trägt. Und wenn ich etwas Positives aus der Pandemie mitnehme, dann ist es die Zunahme des wissenschaftlichen Diskurses. Noch nie wurde so viel über Wissenschaft und mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern diskutiert wie in der Pandemie.
Abel: Ja, Wissenschaft war noch nie so präsent. Aber nicht nur in positivem Sinne. In meiner Wahrnehmung war die Gesellschaft auch sehr verunsichert. Die Menschen hatten häufig das Gefühl: Wissenschaft ist zu komplex, es gibt nie klare Aussagen, keiner hat den Durchblick.
Rautz: Ganz so negativ sehe ich das nicht. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mussten in der Krise lernen, mit großem Druck umzugehen und über den wissenschaftlichen Tellerrand hinauszuschauen – und damit meine ich auch den Tellerrand der einzelnen Fachdisziplinen. So gesehen war die Pandemie ein Aufwärmtraining für die transdisziplinäre Bewältigung kommender Krisen. Die Hoffnung besteht, dass Wissenschaft, Politik und Gesellschaft mehr aufeinander zugehen.
Herr Rautz, Sie haben die Forschung auf Eigeninitiative angesprochen. Welche Forschungsfragen treiben sie um?
Rautz: Vor 20 Jahren glaubte man, Migration sei in Südtirol kein Thema. Eurac Research hat damals schon angefangen, zum Thema neue Minderheiten zu forschen. Von Seiten des Landes war man eher verwundert, worin der Sinn solcher Forschungsthemen bestünde, da man sich doch auf die alteingesessenen Minderheiten konzentrieren möge. Als dann die Landesregierung Jahre später mit Auftragsforschung in diesem Bereich an uns herantrat, mussten wir uns nicht erst einarbeiten. Forschung muss immer einen Schritt voraus sein und darf gesellschaftspolitischen Themen nicht hinterherhinken.
Abel: Ähnlich verhält es sich mit der Forschung zur Mehrsprachigkeit. Diese verstehen wir an Eurac Research seit jeher als umfassende Mehrsprachigkeit, die alle Sprachen miteinbezieht – und nicht nur die klassischen Fremdsprachen im Sinne einer Elite-Mehrsprachigkeit. Wir erforschen aber ebenso lokale Dialekte, etwa in den sozialen Medien. Auch Dialekte und andere Varietäten – das mag jetzt einige Fachfremde vielleicht verwundern – bereichern unsere Sprachrepertoires. Diese Mehrsprachigkeit innerhalb einer Sprache nennen wir auch innere Mehrsprachigkeit, im Unterschied zur äußeren Mehrsprachigkeit.
Frau Abel, wie sieht Ihre ideale Südtiroler Schule in 30 Jahren aus?
Abel: Eine Schule, die allen Kindern möglichst gleiche Chancen für ihren Werdegang bietet. Und dazu gehört, dass sie in ihren mehrsprachigen Bedürfnissen gefördert werden, vom Dialekt bis hin zu allen in Südtirol gebräuchlichen Sprachen. Mein Eindruck ist, dass wir schon auf einem recht guten Weg sind; auch die Forschung wird mehr und mehr ernstgenommen.
"Im Bereich Minderheitenschutz fehlt in Südtirol noch ein Gesetz zum Schutz der Roma."
Günther Rautz
Herr Rautz, wie steht Südtirol in Sachen Integration im Vergleich zu anderen italienischen Regionen da? Und wohin führt der Weg?
Rautz: Südtirol ist grundsätzlich gut aufgestellt. Im Bereich Minderheitenschutz fehlt noch ein Gesetz zum Schutz der Roma. Das gibt es in einigen anderen italienischen Regionen schon. Was die Zukunft betrifft, so gilt es, die junge Generation schon heute aktiv in die Diskussion um die Weiterentwicklung der Autonomie und das Zusammenleben einer immer vielfältigeren Gesellschaft miteinzubinden. Mit dieser kulturellen Vielfalt und einem immer attraktiveren Lebens- und Arbeitsumfeld können wir uns auch im Wettbewerb um die besten Köpfe europaweit positionieren.
Andrea Abel
Andrea Abel und Günther Rautz gehören zum Urgestein von Eurac Research. Die Vollblutlinguistin Abel arbeitet seit 1997 am Institut für Angewandte Sprachforschung, seit 2016 leitet sie es. „Professionell deformiert“ macht sie (fast) alles im Leben zum Projekt und will den Dingen auf den Grund gehen. Als Ausgleich zur Kopfarbeit lebt sie ihre Kreativität beim Nähen aus und läuft sich gern die Seele aus dem Leib.
Günther Rautz
Günther Rautz studierte Rechtswissenschaften und Philosophie in Graz, Bari, Rom und Innsbruck. Auch er ist seit 1997 bei Eurac Research, das Institut für Minderheitenrecht leitet er seit 2018. Als Minderheitenberater reist er viel, meidet aber sinnloses Fliegen und durchquerte Europa schon in Nachtzügen, als Nachhaltigkeit noch kein Thema war.